Hektor: 88 Jahre jung
- Sven Edel
- vor 6 Tagen
- 4 Min. Lesezeit

Es gibt Entscheidungen, die sind mit Sinn und Verstand nicht zu erklären. Das habe ich in meiner Odyssee rund um die 28mm Brennweite deutlich gemerkt und eine Konsequenz daraus für mich gezogen:
28mm sind nicht meine Brennweite und es wird kein Objektiv mehr aufgrund nüchterner Betrachtung gekauft, sondern mit dem Herzen!
So ging es also am 5. April 2025 nach Wetzlar, denn dort lag ein Objektiv, dass mich reizte. Und das trotz seiner Brennweite von 2,8cm,... man könnte auch sagen 28mm 🙄 Woran der Reiz nicht lag und liegt, ist also schonmal klar.
Was ist also das reizvolle?
Gewicht: 110g
Länge: < 1,5cm
Baujahr: 1937
Stückzahl: 9.694 (davon 1.720 aus 1937)
Man könnte also sagen, ein Pancake aus einer Zeit vor dem 2. Weltkrieg. Wer weiß, was durch dieses Objektiv gesehen wurde? Welche Greueltaten des 2. Weltkriegs, aber auch im völligen Kontrast hierzu welche Freude in Jahren, in denen es steil bergauf ging, die Zeit des Wirtschaftswunders. Vielleicht der Beginn der deutschen Einheit mit dem Mauerfall in 1989? Die Ängste, die uns 9/11 brachte. Oder auch immer häufiger auftretende Naturkatastrophen, die wohl dem menschengemachten Klimawandel zuzurechnen sind, wie in 2021 die Flut im Ahrtal? Was muss dieses Objektiv erlebt haben? Oder lag es über Jahrzehnte bei einem Sammler in der Vitrine? Fragen, die ich wohl nicht beantwortet bekomme. Der Gedanke daran, dass das Objektiv die Weltgeschichte erlebt haben kann, gefällt mir jedoch außerordentlich und ist die ganz wesentliche Triebfeder, mich doch wieder auf 28mm bzw. vielmehr ganz im speziellen auf dieses Objektiv, das Leitz Hektor 2,8cm f6.3, einzulassen.
Wie man richtig vermutet, ist es ein Schraubobjektiv. Klaro, 1937 war das M-Bajonett noch 17 Jahre entfernt. Da ich, Stand Mai 2025, keine Schraubleica besitze, musste ein Adapter her, um das Hektor auf meinen Ms nutzen zu können. Auf Empfehlung des lieben Marco (@el_chico_con_la_leica) wurde es ein günstiger Adapter von eBay, der als Gimmick Fräsungen hat, um eine 6 Bit-Kodierung einzumalen:

Nun stand eine Frage im Raum: Kann dieses historische 2,8cm Objektiv meine Erfahrungen mit dieser Brennweite in eine positive Richtung lenken?
Spoiler: ja!
Noch ein Spoiler: auch dieses 28er wird kein Immerdrauf für mich sein!
Die ersten Fotos beim Kauf des Hektors offenbarten eines: furchtbar altmodisch wirken die Bilder damit nicht. Ok, bei Offenblende (f6.3 😏) sind die Bilder nicht mega kontrastreich und bei Gegenlicht gibt es Flares. Gerade letzteres mag ich jedoch sehr gern und finde es schade, dass moderne Linsen dafür oft so garnicht anfällig sind. Wie immer: Geschmacksache.

Diesem Bild gibt man doch nicht, dass es mit einer 88 Jahre alten Linse aufgenommen wurde, oder?
Leica M11-D

Hier sieht man, dass etwas Kontrast fehlt. Kann bei Bedarf in der Post ohne Weiteres angepasst werden.
Leica M11-D
Weiter gehts: Kurz nach dem Kauf stand ein Familienurlaub in Garmisch-Partenkirchen an, meiner bevorzugten Wahlheimat 🏔️ Und in diesen Urlaub kamen nur zwei Objektive mit, die unterschiedlicher kaum hätten sein können. Das Hektor aus 1937, das kaum mehr aufträgt als ein Objektivdeckel und das Noctilux-M 50mm f0.95, das zu den größten und schwersten M-Objektiven gehört und ein modern zeichnendes Objektiv ist.
Die ersten, ein, zwei Stunden, die das Objektiv auf der M war, waren etwas gewöhnungsbedürftig, was das Handling angeht. Denn eines ist doch klar, bei diesen extrem kompakten Maßen, sind große Hände und Finger der intuitiven Nutzung nicht wirklich zuträglich. Auch führt die Größe an anderer Stelle zu einer Besonderheit:
Den Blendenring sucht man hier vergeblich. Die Blende wird "im" Objektiv über einen kleinen Schieberegeler eingestellt:

Um fair zu sein: an einer modernen, digitalen M, wie der M11(-D) und dem Kaiserwetter, das wir überwiegend hatten, ist ein reges Verstellen der Blende sowieso unnötig. Zumeist stand diese auf 9 und wurde über Tag annähernd garnicht geändert. Bei f9 sind die Bilder dann für meinen Geschmack ausreichend scharf und kontraststark. Nur eben bei f6.3 - Offenblende 😉 - sind Kontrast und Schärfe ausbaufähig.
Hier sind einige Ergebnisse, die in Garmisch-Partenkirchen und Grainau bzw. genauer gesagt am Eibsee, entstanden sind, allesamt an der Leica M11-D bei voller Auflösung und als DNG.



Gegenlicht führt beim Hektor zu traumhaften Flares 😍

freistellen ist bei f6.3 und 28mm natürlich nicht die Kernkompetenz


dank Blende 12 (ca.) gehen dann auch mal Aufnahmen über den dicken Daumen: hier habe ich die Kamera auf den Boden in der Seilbahn gestellt, bin auf NAheinstellgrenze gegangen (1m) und habe geschätzt


Blick vom Wank (dürfte in Richtung Wettersteinwand sein)

hier sieht man, wie kompakt das Hektor tatsächlich ist
dadurch wird die M zur Kamera für in die Jackentasche

auf halbem Weg zum Gipfel des Wank ergeben sich immer wieder tolle Blick nach Garmisch-Partenkirchen
Unterm Strich hat das Hektor mich überezeugt: Es macht die M einfach noch kompakter, als sie ohnehin schon ist. Und es macht die M ein wenig zur Knipse, denn weder Blende noch Entfernung müssen bei solchen Touren oft eingestellt werden. Es macht Spaß dieses Objektiv drauf zu haben und zu wissen, dass es älter ist, als sämtliche meiner lebenden Verwandten. Das macht es einfach zu etwas besonderem und passt damit so irre gut in die gesamte Leica-Welt!

Ein letzter Blick in Richtung Zugspitze, auch wenn diese gerade im Nebel verschwindet und nur die Stütze der Seilbahn zu sehen ist. Dann heißt es wieder: ab nach Hause.